Eine Reise aus der Perspektive der Waldjugend
Stille umgibt uns, nur die eigenen Schritte und der Atem sind zu hören sowie das Rascheln unserer Kleidung. Wir sind zu Fuß unterwegs an der Landstraße zwischen dem Raketenstartplatz Esrange und der Siedlung Jukkasjärvi, nach vielen Tagen intensiver Erlebnisse ganz allein mit uns selbst. Die Natur bekommt hier innerhalb von Sekunden eine andere Wirkung. Die Weite, die Kälte, die (Menschen)Leere lässt uns eindrucksvoll spüren was für hilflose Wesen wir doch ohne unseren alltäglichen Komfort sind. Wie gut, dass hinter der nächsten Kurve der Bus wartet, der uns an diesem letzten Tag in die heimelige Unterkunft in Kiruna bringen wird. Wenige Meter abseits der Straße ist der Schnee unberührt, die Kiefern sind schneebedeckt und biegen sich unter der Last. Die Lufttemperatur ist -15 Grad, da kein Wind weht, ist der Windchill-Effekt an diesem Tag zu kaum zu spüren.
Fast könnte man vergessen, was wir in den letzten Tagen gelernt und gesehen haben. Fast, aber nur fast, denn wir sehen auch hier im borealen Nadelwald (oder gerade hier?) dass der Mensch Spuren hinterlassen hat, die vielleicht für immer bleiben oder lang anhaltende Folgen haben werden.
Willkommen in einer Region im Norden Europas, die den meisten Menschen ausschließlich für das Eisenerz von Kiruna, Mücken im Sommer, märchenhafte Winter samt Heimat des Weihnachtsmannes und Nordlichter bekannt ist. Den Nordlichtern ist es zu verdanken, dass es im Winter überhaupt „fremde“ Menschen hier gibt, aber diese verlassen meist den Kokon aus Hotels, Hütten und organisierten Touristenprogrammen nicht – im Gegensatz zum Sommer eine Atempause für die Natur.
Es sei denn, man fährt in die Gegend, um zu verstehen und zu begreifen.
Und genau das ist die Intention unserer Reise: Wie leben Menschen in einer Region, die für ganz viele Probleme dieser Welt ein Spiegel ist? Was sind die Herausforderungen, die auf sie zukommen?
Wie können wir Menschen in Deutschland darauf aufmerksam machen, dass Lappland eben nicht nur eine tolle Urlaubsregion ist, mit einem bewundernswertem Volk, was in der Kälte etwas Eisenerz abbaut oder Rentiere züchtet, sondern eine, wahrscheinlich die Region in Europa, die bereits heute von der Klimakrise am stärksten betroffen ist?
Aber zurück zum Anfang der Reise – zurück zum 29. Dezember 2018.
Es ist 02.30 Uhr am Hamburger ZOB. Wir steigen in den Bus Richtung Kopenhagen, um ab dort per Bahn weiter über Stockholm nach Kiruna zu reisen. Bewusst haben wir uns entschieden, per Bus und Bahn zu reisen, um einerseits die Distanz erlebbar zu machen, andererseits aber auch aus Klimaschutzgründen. Unsere Reise hat einen Bruchteil der CO2-Emissionen verursacht, die eine Reise per Flugzeug erzeugt hätte. Natürlich hätten wir auch fliegen können und den CO2-Ausstoss dann per Zertifikat kompensieren können, aber das wäre uns zynisch vorgekommen: CO2 verursachen, dieses durch Projekte irgendwo auf der Welt kompensieren lassen und dann die Menschen besuchen, die den Schaden bereits heute haben? Das wollen wir nicht.
Etwa 30 Stunden später:
Nach dem Verpflegungseinkauf in Kiruna geht es weiter in die STF Fjällstation in Abisko, bis vor wenigen Jahren noch im Winter geschlossen und bestenfalls bekannt als Startort für den Fernwanderweg Kungsleden. Seit dem Nordlichtboom gibt es hier jedoch einen der Touristenhotspots. Abendliche Huskytouren, Rentiererlebnisse, Schneeschuhwanderungen und Busreisen nach Narvik oder zum Eis-Hotel nach Jukkasjärvi unterhalten Touristen aus aller Welt. Vielfach sind Asiaten vertreten, aber auch Australier und Amerikaner hört man aus dem Stimmengewirr. Die Fjällstation ist nicht nur Touristentreff sondern auch Begegnungsort für Menschen aus der ganzen Welt. In einer großen Gemeinschaftsküche kann jeder kochen und so kommt man miteinander ins Gespräch. Abends bei der gemeinsamen Nordlichtjagd, tauschen wir uns mit ein paar Asiaten aus – wer wohl das beste Nordlicht-Foto gemacht hat?
Überrascht sind viele Menschen über die relativ geringen Mengen an Schnee, die hier liegen. Abisko ist eine der niederschlagsärmsten Regionen Skandinaviens, da es dort, abgeschirmt durch die Gebirge ringsum seltener bewölkt ist, als im Umland. Daher sind die Bedingungen für Nordlichtsichtungen ideal. In zwei von vier Nächten haben wir ebenfalls Glück, erleben gemeinsam die Nordlichter und können schöne Fotos schießen, die – wie immer – nur einen kleinen bildhaften Ausschnitt des Gesamterlebnisses für die Ewigkeit bannen.
Was kaum einer der Touristen weiß: In Abisko ist auch die zentrale Arktis-Forschungseinrichtung der Schweden. „Eyes on Abisko“ ist ein geflügeltes Wort in Wissenschaftskreisen geworden, wenn es um die Beobachtung der Klimakrise geht. Denn: Abisko gehört zu den Orten mit nennenswerter Bedeutung, die in den letzten Jahren das Prädikat „Arktisches Klima“ verloren haben. Ein aufmerksamer Beobachter sieht, dass die Baumgrenze immer höher steigt – oberhalb bestimmter Meter gibt es nur junge Bäume, was darauf hinweist, dass erst seit wenigen Jahren dort Bäume wachsen. Ein anderer sieht die kleinen Zettel, mit denen die Wissenschaftler Touristen zum Download einer App ermutigen, um die Vegetation auf den Wanderungen zu dokumentieren – Selfies im Dienste der Klima- und Vegetationsforschung? Auf einem Streifzug durch den Canyon nahe der Fjällstation treffen wir eine Einheimische, sie erzählt uns, dass der See Torneträsk im Winter 2017/18 das erste Mal seit sie sich erinnern kann, den ganzen Winter nicht zugefroren war.
Kurze Zeit später stehen wir auf einer Brücke, unter uns rauscht der Fluss lang, an den Stellen wo er nicht gefroren ist kann man sein hellblaues Wasser sehen, und machen uns Gedanken über unseren Planeten. Er liegt im Sonnensystem an einem ganz besonderen Punkt, nur hier gibt es Wasser in allen drei Aggregatzuständen. Unter uns fließt das Wasser, auf dem Geländer liegt Schnee und unser Atem macht kleine Wölkchen. Der Triple Point – flüssig, fest, gasförmig, nur hier ist es möglich, dass Leben in der heutigen Form existiert.
Den Ort an dem unsere Erde liegt, werden wir nicht ändern, trotzdem sind wir dabei, einen Aggregatzustand zu verlieren: Das Eis. Wir Menschen finden Schnee und Eis schön, aber Meereseis, besonders mehrjähriges, ist Lebensraum für viele Organismen. Eis ist essentiell für Luft- und Ozeanzirkulation rund um den Planeten. Ohne Zirkulation stagnieren Wetterfronten und dann kommt es z.B. zu lang anhaltendem grauem Wetter in Deutschland oder zu wochenlanger extremer Kälte in den USA. Von Dürre ganz zu schweigen. Wir brauchen den Austausch zwischen Wärme und Kälte; die Temperaturdifferenzen sorgen dafür, dass die Erde “atmet”. Und große Eisflächen reflektieren eine Menge Sonnenlicht und sorgen dafür, dass der Planet sich nicht noch weiter aufheizt.
Nach einem böllerfreien Silvester am Lagerfeuer der STF-Station und weiteren erlebnisreichen Ausflügen geht es weiter nach Kiruna. Eine Stadt, die derzeit in Aufruhr ist, da sie umziehen muss. Umziehen wegen ihrer Lebensgrundlage, dem Eisenerz, welches unter der Stadt abgebaut wird und welches nun für Einsturzgefahr sorgt. Den Bergarbeiterwohnungen, in denen wir unterkommen, ist anzusehen, dass es bald „woanders“ hingehen wird, in der Stadt herrscht eine merkwürdige Mischung aus Stille (wie man es in Schweden kennt) und Aufbruchstimmung, die vor allem von den Bauzäunen der gesperrten Gebiete auf großen Motivationsplakaten verkündet wird.
Auch hier bekommen wir als Mitteleuropäer immer nur in spektakulären Dokumentationen mit, wenn mal wieder ein bedeutendes Gebäude am Stück umgezogen ist. Aber das ist ein Bruchteil der Wahrheit. Nur wenige historische Gebäude sind wichtig genug, dass der Aufwand einer Relokation betrieben wird. Die Kirche, der Glockenturm, das ehemalige Wohnhaus des Stadtgründers. Der größte Teil des Stadtkerns wird abgerissen und an anderer Stelle – rund 3 km östlich – neu aufgebaut. Spricht man mit Menschen, fragt nach, gibt es eben auch hier die andere Seite: Wie sehr werden die Kosten für die neuen Häuser steigen, wie hoch werden die neuen Mieten. Aber auch: Lohnt sich das Ganze – denn momentan zweifelt die Minengesellschaft an einem langen Weiterbetrieb der Stamm-Mine. Es ist durchaus möglich, dass 2030/2035 Schluss ist mit der einzigartigen Situation, dass Menschen mit dem Bus zur Arbeit um die Ecke fahren können und im Prinzip nur von unten am Erzkörper kratzen müssen und ihnen riesige Mengen reinstes Eisenerz – immerhin die Entsprechung von sechs Eiffeltürmen pro Tag – entgegen fallen. Wenn dieser Erzkörper ausgebeutet ist, hat Kiruna ein Problem, denn dann wird der Abbau eventueller neuer Lagerstätten lange nicht mehr so einfach und auch nicht mehr so profitabel sein – und damit auch viel weniger Geld in die Stadtkassen spülen.
Auch hier zeigen sich Folgen einer menschlichen Entscheidung: Eine Stadt muss umziehen, nicht weil die Naturgewalt sie dazu zwingt, sondern weil Menschen einmal vor langer Zeit eine Entscheidung getroffen haben, nämlich sich an einem für sie guten Ort anzusiedeln. Mehr als 100 Jahre später zeigt sich nun, dass die Entscheidung nicht optimal war und nun geht es an die Grundfeste: Die Sicherheit des Wohnraumes, des gewohnten Ortes, vielleicht der eigenen Komfortzone ist gefährdet und die Ungewissheit wo es hin geht, aber auch die Ausweglosigkeit der Situation beeinflusst den Alltag der Menschen.
Der Umzug von Kiruna wird weltweit beachtet, weil es viele Städte auf der ganzen Welt treffen kann, sei es wegen Bergbau, sei es aber auch wegen Naturkatastrophen oder eben – und hier schließt sich der Kreis – wegen der akuten Klimakrise.
Wir laufen nach einer Bergwerksführung durch Kiruna und fragen uns was aus dieser Stadt werden wird in den nächsten Jahren, und was sich wohl alles verändern wird, bis wir in zwei Jahren wieder herkommen. Wir schauen uns die schöne alte Holzkirche an, die zu den Objekten gehört die noch umziehen sollen und fragen uns, wie das funktionieren soll.
Am nächsten Tag besuchen wir das Sami Camp in Jukkasjärvi und das weltbekannte Eis-Hotel. Die Menschen hier machen sich viele Gedanken, wie es auch ohne das kostbare Eisenerz weitergehen kann.
Tourismus ist dabei ein großes Thema, aber auch IT, Weltraum- und Klimaforschung. In der Gruppe diskutieren wir über die Chancen des Tourismus, aber auch über die Gefahren. Bisher ist der Tourismus auf einige wenige Hotspots beschränkt. Kiruna, die Fjällstation, das Eis-Hotel, die Skipisten. An viele Orte kommt man nur mit einem Guide. Wir sind uns einig, dass es für diese Region mit ihrem sensiblen Ökosystem besser so ist. Schon jetzt haben die stets frei lebenden Rentiere Schwierigkeiten mit der Futtersuche im Winter. Sie sind auf die Flechten unter dem Schnee angewiesen, welcher bei häufigen Temperaturschwankungen zu Eis wird und ihnen den Weg versperrt. Ersatzfutter nehmen sie nur schlecht bis gar nicht an und auch wenn nur noch wenige Sami von der Rentierzucht leben, ist die Zucht doch ein wichtiges Kulturgut.
Am letzten Abend in Kiruna überraschen uns die Nordlichter noch einmal mit einem Feuerwerk, dieses Mal in vielen Farben. Und wieder haben wir das Gefühl ganz klein zu sein. Wir stehen draußen, haben vor Aufregung unsere Jacken drinnen liegen gelassen und auch auf die Schneehose verzichtet. Plötzlich wird einem noch bewusster, ohne unsere Kleidung, ohne die Wärme und Sicherheit unserer Unterkünfte, wären wir verloren. Der Mensch ist nicht unbedingt für eine Region wie die Arktis geschaffen – ebenso wenig wie für andere Extreme, wie Wüsten, das Leben im Wasser oder im Weltall. Um hier zu überleben muss er tricksen und das tut er, mehr oder weniger auch auf Kosten der Natur. Menschen sind einfallsreich und wenn man sich den Aufwand anschaut, den sie in der Arktis für ihr Überleben treiben, dann fragt man sich unweigerlich: Wenn wir auf diese Weise den Herausforderungen des Klimas begegnen können, wieso können wir dann nicht die Klimakrise lösen?